Das Wunder von Wuzhen

Am 22. Juli fand in Asien die längste totale Sonnenfinsternis dieses Jahrhunderts statt. Meine Frau und ich reisten deshalb nach China, um dieses fantastische Naturereignis mitzuerleben. Für mich war es die dritte totale Sonnenfinsternis.

Peter Helfenstein

Bereits 1999 habe ich nach der totalen Sonnenfinsternis in Deutschland in dieser Zeitung folgendes geschrieben: «Für mich steht heute schon fest: Am 22. Juli 2009 reise ich - so Gott will - nach Shanghai in China, um dort die längste Sonnenfinsternis des 21. Jahrhunderts zu erleben. Dann wird man die schwarze Sonne während der Rekorddauer von 6 Minuten 39 Sekunden bestaunen können. Wer einmal erlebt hat, wie die Sonne mitten am Tag verschwindet, wird süchtig nach dem Schattenkick. Also, auf Wiedersehen im Jahr 2009 in Shanghai!» Zwischenzeitlich durfte ich auch die totale Sonnenfinsternis am 29. März 2006 in der Türkei miterleben.

Weite Reise
Am 18. Juli flogen wir von Frankfurt am Main aus mit der Air China in einem Airbus 340-300 ins 8865 Kilometer entfernte Shanghai. Als wir dort nach einem 10 ½-stündigen Flug die Flughafenhalle verliessen, hauten uns die 38° C im Schatten und die hohe Luftfeuchtigkeit fast um. Mit der magnetischen Schwebebahn, dem Shanghai Transrapid, ging’s in die Stadt. (Video {1.312 MB} von Albert Eisenring) Er legte die 30 Kilometer lange Strecke bei einer Höchstgeschwindigkeit von 430 Kilometer pro Stunde in 7 Minuten 18 Sekunden zurück. Es fühlte sich an wie ein ICE, nur viel schneller, nicht ruckelfrei wie man es für eine Magnetbahn erwarten würde. Für den Rückweg brauchten wir dann mit dem Bus für die gleiche Strecke wegen stockendem Verkehr zwei Stunden!

Drei Mal so viele Einwohner wie die Schweiz
Westliche Händler nannten Shanghai in den 1920-er Jahren das «Paris des Ostens». Heute ist Shanghai mit 18,6 Millionen Einwohnern nach Chongqing die zweitgrösste Stadt in China. Als neue Wirtschafts- und Finanzmetropole des ganzen Landes erfährt Shanghai seit den 1990-er Jahren eine Veränderung, die weltweit ihresgleichen sucht. Alte Flachbauten sind längst abgerissen und unzählige Hochhäuser und Wolkenkratzer bilden eine atemberaubende Silhouette. Imposante Bank- und Verwaltungsgebäude säumen den Bund, die Uferstrasse des Huangpu, von dem aus Chinas bekannteste Einkaufsstrasse, die Nanjing Lu, abzweigt.

Auf schwindelerregender Höhe
In 45 Sekunden brachte uns ein Aufzug in die 88. Etage des Jin Mao Towers. Auf einer Höhe von 340 Meter genossen wir einen fantastischen Blick auf die Stadt. Der Wolkenkratzer wurde nach traditionellen chinesischen Formen geschaffen; so soll die treppenförmig aufsteigende Stahl-Glas-Fassade an eine Pagode und einen Bambus-Halm erinnern. Die 8 als chinesische Glückszahl hat ebenfalls besondere Bedeutung: Exakt zum Zeitpunkt der Auswahl des Entwurfes war Staatschef Deng Xiaoping 88 Jahre alt, die oben genannten 88 Stockwerke spielten eine Rolle und das Gebäude wurde am 28. August 1998 eingeweiht. In unmittelbarer Nähe des Jin Mao Towers (mit 420,5 Meter Höhe das zweithöchste Gebäude Chinas) steht Chinas höchstes Gebäude, das Shanghai World Financial Center. Es ist 492 Meter hoch und wird wegen seiner Form auch «Flaschenöffner» genannt. In Erinnerung bleiben werden uns auch die Lichterfahrt am Abend und der Besuch einer chinesischen Artistenshow (Bild mit chinesischen Artistinnen, erschienen am 14. Oktober 2009 in der Neuen Luzerner Zeitung). Absoluter Höhepunkt waren hier die fünf Motorradfahrer, die gleichzeitig in einer Metallkugel ihre Kreise zogen. Nicht fehlen auf dem Programm durften ein Besuch des weltberühmten Jadebuddha-Tempels und einer Seidenfabrik.

Wuzhen, das kleine Wasserdorf
Am Tag vor der totalen Sonnenfinsternis fuhren wir mit dem Bus ins 130 Kilometer südwestlich von Shanghai gelegene Wasserdorf Wuzhen. Unser chinesische Reiseleiter Cheng, der sehr gut deutsch sprach, meinte, dass Wuzhen mit seinen 60‘000 Einwohnern für chinesische Verhältnisse ein kleines Dorf sei. Wuzhen ist autofrei und zum Hotel gelangten wir auf einem Boot. Die vielen Kanäle und Brücken erinnern an Venedig.

Reisende Nacht in Fernost
Hunderte Millionen von Menschen in Asien haben am 22. Juli ein magisches Naturschauspiel miterlebt – die längste totale Sonnenfinsternis dieses Jahrhunderts. Sie ergab sich durch eine extrem seltene Konstellation. Die Erde hat sich nämlich besonders weit von der Sonne entfernt, der Mond dagegen ist sehr nah an der Erde. Deswegen waren Mondschatten und Kernschatten auf der Erdoberfläche die grössten seit langem. Es wurde also aussergewöhnlich lange dunkel. In einem Korridor von 258 Kilometer Breite und 15‘000 Kilometer Länge wanderte die Sonnenfinsternis von Indien aus über Nepal, Bangladesch, Bhutan, China und Japan. Am längsten dauerte das Schauspiel über dem Pazifik. Hier vergingen 6 Minuten und 39 Sekunden ehe die Sonne wieder zum Vorschein kam.

Sonnenfinsternis

Wahrhaftig, sie zeigt sich doch noch – die Sonne! Jubel und Staunen in Wuzhen.

Bild Peter Helfenstein

Riesenglück in Wuzhen
Statt freier Sicht auf die Sonne schwere Wolken und Regenfälle im Dorf Wuzhen südlich von Shanghai. Enttäuschung macht sich breit bei den 300 Touristen, die allein aus Deutschland angereist sind – immer wieder Schauer. Doch dann, eine halbe Stunde vor der totalen Sonnenfinsternis, plötzlich reisst der Himmel auf. Minuten später. Die Hoffnung wird zur Gewissheit. Riesenglück in Wuzhen, denn sonst überall in China war die längste Sonnenfinsternis des Jahrhunderts nicht zu beobachten. Aber hier genossen wir 5 Minuten und 50 Sekunden lang die schwarze Sonne, ein Naturschauspiel, wenn auch mit Schönheitsfehlern. Es wurde aussergewöhnlich dunkel, noch finsterer als damals in Deutschland. Immer wieder gab das Publikum seiner Begeisterung mit lauten «Ahs» und «Ohs» Ausdruck. Kaum wurde es wieder hell, hörte man das Konzert von tausenden von Zikaden, für die es heute zum zweiten Mal Tag wurde.
Viele der Touristen reisen von Sonnenfinsternis zu Sonnenfinsternis. Sie sprechen von einem Virus und Momenten, die das Leben verändern. Man kriegt eine Gänsehaut, auch wenn man schon häufiger diese totalen Sonnenfinsternisse gesehen hat. Es ist jedes Mal wieder ein Erlebnis.
Und dafür hatte es sich für uns gelohnt, nach China zu reisen oder besser gesagt, ins kleine Dorf Wuzhen. Hier hat die Natur die Menschen an diesem Tag glücklich gemacht.

Korona

Der 1. Diamantring funkelt und kündigt die Totalität an.

Bild Ralf Schindler

Warten bis zum Jahr 2123
Ich hoffe, dass die Sonnenfinsternis in Asien für mich nicht die letzte war. Als Finsternisfan fiebere ich auf ein Ereignis in ferner Zukunft hin: Am 2. August 2027 wird der Mond die Sonne am Nil in Ägypten fast sechseinhalb Minuten lang verdecken und die schwarze Sonne wird fast senkrecht über dem Beobachter stehen – nach Ansicht von Astroinfo «die Jahrhundertfinsternis».
Erst am 3. September 2081 wird auch hierzulande wieder eine totale Sonnenfinsternis zu sehen sein. Und in 123 Jahren, am 13. Juni 2132, wird eine noch längere Finsternis stattfinden als diejenige in Fernost in diesem Jahr. Für die beiden letztgenannten Ereignisse habe ich noch keine Pläne geschmiedet. Ich glaube, es wäre keine gute Idee.

Fotos im Internet
Unter folgendem Link können Bilder von der China-Reise bestaunt werden:
http://www.peterhelfenstein.ch/fotogalerien/2009/sofi_2009-07-22/index.html